Meine Mutter und ich waren gestern wandern. In den Vogesen. Frühmorgens sind wir los, um nicht im Frühtau, aber wenigstens vormittags zu Berge zu ziehen, fallera. Wir wanderten allerdings gar nicht so viel, und wie üblich hatte ich vorsorglich ein Buch eingepackt, denn ich weiß, irgendwann – und meine Mutter hat die Route so geplant, dass wir gar nicht daran vorbeikommen oder besser gesagt auf jeden Fall daran vorbeikommen – wird sie stehenbleiben und sagen: „Schau mal, so viele Heidelbeeren! Oh, klasse!“ und schon verschwindet sie zwischen den kniehohen Sträuchern, bewaffnet mit ihrem knallroten Heidelbeerpflückgerät mit den metallenen Zähnen, das aussieht wie ein kleiner Handmähdrescher, und ich weiß, jetzt ist es an der an der Zeit, mir ein gemütliches Plätzchen zu suchen und zu lesen, bis meine Mutter ihr Sammelfieber ausgelebt hat oder alle verfügbaren Behälter bis oben hin gefüllt sind mit den kleinen süßen köstlichen Beeren.
So auch gestern. Nachdem wir uns von der Qualität der Früchte in einer Ferme Hauberge entlang des Weges bei einer tarte aux myrtilles überzeugt hatten – ein weiteres unumgängliches Ritual – fuhren wir nach Hause und ich wusste, morgen wird es Dampfnudeln geben, mit Vanillesoße und frischen Heidelbeeren, und übermorgen Blaubeerpfannkuchen zum Frühstück. Mit Puderzucker oder Ahornsirup, beides dürfen wir Kinder nicht. Und während wir so fuhren, und ich aus der Tupperdose naschte, konnte ich beides schon fast schmecken, vor allem aber die Dampfnudeln, und meine Gedanken wanderten in die Küche… wie meine Mutter den Teig zubereitet, dabei erst das Mehl nicht findet, schließlich über die Katze stolpert und das „blöde Mistvieh“ verflucht. Wie sie den Teig ordentlich durchboxt, die alte große Schmorpfanne nimmt, bei der ein Henkel halb abgebrochen ist und die unten schon ganz schwarz ist und nur erahnen lässt, wie edelstahlstrahlend sie einst gewesen sein muss. Das ist der Topf, in dem sonst herzhaft geschmort und und gegart wird (und mich mit Grausen an das lapprige Paprikagemüse meiner Mutter denken lässt. Pfui.) Für Dampfnudeln ist er perfekt und Dampfnudeln wird es immer nur aus diesem Topf geben. Schon reihen sie sich im Kreise, dicht and dicht in die Pfanne gedrängt, Deckel drauf und „ja nicht den Deckel hochheben, Umgotteswillen!“
Nach und nach ziehen süße, wohlbekannte Düfte durch das ganze Haus, karamellig, leicht verbrannt – aber nur leicht – und es wird Zeit, die Vanillesauce anzurühren, ganz profan das Fertigtütenprodukt: einmal aufkochen mit Milch, umrühren, fertig, zack, das können sogar mein Bruder und ich. Meistens ich. Er deckt lieber den Tisch. Das kann er aber nicht so schön, da fehlt ihm die ästhetische Ader, also korrigiere ich sein pragmatisches Tun zu einer anschaulicheren Tafel, auch um meine wachsende Ungeduld zu überbrücken, denn ich habe Huuuuuunger. Fast brennen die Dampfnudeln doch noch an, denn wie immer ist meine Mutter „nur ganz geschwind noch kurz“ sonstwohin verschwunden. Aber es geht alles gut; zum Glück, denn wir Kinder hätten uns nicht getraut zu intervenieren, das führt nur zu Ärger. Nein, nein, wir tun so als hätten wir von dem, was in der Küche beinahe passiert wäre, rein gar nichts mitbekommen.
„Essen ist fertig“ schallt die Stimme meiner Mutter durchs Haus, dabei sind wir doch alle da, außer Papa, aber der ist Diabetiker und isst das nicht.
Und da sitzen wir, an unserem uralten, dunkel gebeizten Holztisch mit Fußleiste in der Mitte. Die Sauce hat schon Haut gezogen – igitt! – aber mein Bruder löffelt sie todesmutig weg. Die Heidelbeeren, gelesen und gewaschen, stehen bereit. Schon bringt meine Mutter den heiß(ersehnt)en Topf, vorsichtig umklammert mit zwei unterschiedlichen Topflappen, weil die bei uns alle wild durcheinander in einer Schublade liegen und sie grundsätzlich ohne hinzusehen die zwei erstbesten rausholt. Die hat übrigens alle meine Oma gehäkelt, von der auch das Dampfnudelrezept stammt.
Da stehen sie auf dem Tisch und machen ihrem Namen alle Ehre. Den ersten Kloß bekommt mein Bruder, das Recht des Älteren. Dann bin ich an der Reihe. Oben fluffig weich, wie ein Kissen, unten mit der dicken Karamellkruste die so lustig am Gaumen kleben bleibt. Schon gießt sich ein Strom aus Vanillesauce darüber und es tropft und fließt an den Seiten herab – da liegt sie, die Hefekloßvollkorninsel im Vanillemeer. Wie kleine Farbtupfer, kleine blaue Wunschpunkte, treiben die Heidelbeeren auf dem Meer und ihre Bahnen ziehen lila Fäden, bis mit ein bisschen Gabelfahrerei ein violettes Farbspiel entsteht.
Dieser Moment, wenn ich die Dampfnudel anschneide, mit der Seite meiner Gabel sanft aber bestimmt in das weiche Kloßfleisch stoße, sich die Sauce in die luftigen Zwischenräume legt und ich diesen wunderbar wohlig-warmen Appetithappen endlich dem Munde zuführen darf: Glückseligkeit.